F 82 UEMF – Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen

Definitionen für die UEMF sind sowohl in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) als auch im diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-IV) festgelegt, wobei die Definition nach dem DSM-IV-Kriterien momentan als die besser Verwendbare gilt (AWMFNr.022/017, 2011).

Laut DSM-IV ist das essentielle Kriterium der umschriebenen Entwicklungsstörung motorischer Funktionen

  • Die Leistungsfähigkeit im motorischen Bereich muss deutlich unter dem Durchschnitt von Gleichaltrigen liegen, vorausgesetzt das Kind hat die entsprechenden Möglichkeiten für die Entwicklung sämtlicher Fertigkeiten.
  • Die Koordinationsstörung muss sich deutlich auf die Aktivitäten des täglichen Lebens (zu Hause, Kindergarten, Schule) auswirken.
  • Tiefgreifende Entwicklungsstörungen oder medizinische Ursachen (cerebrale Bewegungsstörungen, muskuläre Erkrankungen, Sinnesbehinderung, schwerwiegende Vernachlässigung, …) müssen ausgeschlossen sein .
  • Bei vorhandener mentaler Retardierung müssen die Koordinationsprobleme größer sein als durch die Entwicklungsverzögerung zu erwarten wäre (American Psychiatric Association, 2000).

Generell fällt es Kindern mit UEMF schwer, Aktivitäten des alltäglichen Lebens zu lernen und auszuführen, wobei hier Tätigkeiten zu Hause, ebenso wie im Kindergarten und in der Schule betroffen sind (Cermak, Gubbay & Larkin, 2002).

Nicht unerwähnt sollte auch die uneinheitliche Verwendung des Begriffes UEMF bleiben. Obwohl sich die Literatur in den neueren Veröffentlichungen vermehrt des Begriffes Developmental Coordination Disorder (DCD – entspricht der deutschen Bezeichnung UEMF) bedient, gibt es vielfältige in den vergangenen Jahrzehnten verwendete Begriffe:

Entwicklungsdyspraxie
Syndrom des ungeschickten Kindes
Entwicklungsbedingte Koordinationsstörung

Die Prävalenz von UEMF wird auf 6 % der Kinder zwischen 5 und 11 Jahren geschätzt, wobei Jungen häufiger betroffen sind (vgl. Kennedy-Behr et al. 2009). Das Auftreten von UEMF ist unabhängig von kulturellen ethnischen und sozioökonomischen Einflüssen. Die Ursache für das Auftreten der UEMF ist derzeit noch nicht geklärt. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten aber es dürfte sicher sein, dass der UEMF ein multifaktorielles Geschehen zugrunde liegt und sowohl neurologische Prozesse als auch genetische und umweltbedingte Einflüsse eine Rolle spielen (Kirby & Drew, 2003).

Die Durchsicht der Literatur macht deutlich, dass es nicht „das“ Kind mit UEMF gibt. Vielmehr ist die UEMF ein sehr heterogenes Entwicklungsbild, das sich in verschiedensten Ausprägungen zeigt (Dewey, 2002). Zusätzlich weist sie eine hohe Rate an Komorbidität mit anderen Störungen, ADHS oder Störungen des autistischen Formenkreises auf (Sugden, Kirby & Dunford, 2008).

Wie aus den Leitlinien hervorgeht, wird die Diagnose F 82 sicher ab dem 5. Lebensjahr gestellt, aber auch bei jüngeren Kindern, die bei Testwiederholungen in den therapiewürdigen Bereich fallen, kann diese Diagnose gestellt werden.

Wahrnehmungsstörungen-sensorische Integration

Taktile Defensivität (Überempfindlichkeit auf taktile Reize)
Taktile Intoleranz

Royeen et al definieren „taktile Defensivität“ folgendermaßen:
Unter taktiler Defensivität versteht man negative und abwehrende Reaktionen auf bestimmte taktile Stimuli, die von den meisten Menschen als „unschädlich“ (nicht schmerzhaft) empfunden werden.
Lit.: Royeen Lane in Fisher, Murray, Bundy, Sensorische Integrationstherapie, Theorie und Praxis, 1998

Mit anderen Worten:
Es geht um die Unfähigkeit die emotionale (eher als perzeptive) Bedeutung von Berührungen oder Berührungsempfindungen in einem bestimmten Kontext richtig und für den Organismus sinnvoll umsetzbar zu interpretieren (A. J. Ayres, persönliche Mitteilung, 17. 03. 1988).

Taktile Defensivität ist als ein Teil einer generellen sensorischen Defensivität bzw. als eine Schwierigkeit der Modulation von Sinneseindrücken anzusehen. In der Praxis zeigen Kinder mit Abwehrverhalten gegenüber taktilen Sinneseindrücken, häufig auch eine Überempfindlichkeit gegenüber auditiven und/oder gustatorischen Reize.

Kennzeichen

  • Vermeiden von Berührungen
  • Abwehrreaktionen auf Berührungen
  • Atypische emotionale Reaktionen auf taktile Reize

Beobachtungen im Alltag des Kindes

  • Die Kinder haben eine Abneigung gegen bestimmte Materialien
  • Die Körperpflege macht Schwierigkeiten
  • Sie zeigen eine Abneigung gegen bestimmte Kleidungsstücke
  • Sie haben Mühe bei körperlichen Berührungen

Taktil/propriozeptive Diskriminationsstörung

„Unter einem eingeschränkten taktilen Diskriminationsvermögen versteht man die Unfähigkeit, zeitliche und räumliche Eigenschaften taktiler Sinneseindrücke zu erkennen“. (Ayres, persönliche Mitteilung 17. 3. 1988)
Es geht dabei um die Unfähigkeit, einen diskriminativen Berührungsinput optimal wahrzunehmen und sinnvoll umzusetzen.

Der Begriff taktile Empfindung bezieht sich auf das Wahrnehmen der Stelle, an der ein externer Reiz auftrifft (registrieren, lokalisieren).
Die Propriozeption befähigt uns, die räumliche Orientierung unseres Körpers oder einzelner Körperteile sowie die Geschwindigkeit und den Ablauf unserer Bewegungen zu kontrollieren. Zudem ermöglicht sie uns zu überprüfen, wie viel Kraft unsere Muskeln aufwenden und in welchem Masse und mit welcher Geschwindigkeit ein Muskel gedehnt wird (Kalaska 1988).

Taktile Empfindungen liefern einem Individuum Informationen über das äußere Umfeld. Das Individuum nimmt diese Informationen häufig auf, während es seinen Körper oder seine Gelenke innerhalb dieser externen Umgebung bewegt (Fisher, 1998) – „Stereognosie“.

Beobachtungen im Alltag des Kindes

  • Spüren Schmutz an den Fingern nicht
  • Bemerken den herauslaufenden Speichel oder Essensreste um den Mund nicht
  • Spüren die eigenen Körpergrenzen nur ungenügend, stoßen sich und rempeln andere, …
  • Die Kinder berühren ständig irgendwelche Gegenstände oder nehmen diese in die Hand
  • Mühe bei Fühlspielen mit den Händen

Schwerkraftunsicherheit / Bewegungsintoleranz (Überempfindlichkeit auf vestibuläre Reize)
Das bewegungsarme/vermeidende Kind

In der Sensorischen Integrationstherapie wird dieses Störungsbild von Fisher (1998) als Modulationsstörung definiert:
Es wird zwischen Schwerkraftunsicherheit (Gravitational Insecurity – GI) und Bewegungsintoleranz (Intolerance of Movement) unterschieden.

Schwerkraftunsicherheit

Ist ein Modulationsproblem, das vor allem Informationen der Makulaorgane (Sacculus und Utrikulus) betrifft; sog. lineare Reize
Schwerkraftunsicherheit äußert sich in emotionalen Reaktionen oder Angstreaktionen, die in keinem Verhältnis zur Bedrohung oder Gefahr stehen, die von vestibulären Reizen oder bestimmten Positionen des Körpers im Raum ausgeht; z. B.: Körperpositionen, bei denen die Füße keinen Kontakt zum Boden haben oder Angst vor geringer Höhe.

Bewegungsintoleranz

Ist ein Modulationsproblem, das vor allem Informationen der Bogengänge betrifft
Drehbewegungen
Bewegungsintoleranz tritt häufig, aber nicht immer gemeinsam mit Schwerkraftunsicherheit auf.

Diese Personengruppe reagiert überempfindlich auf vestibuläre Stimulationen.
Kinder mit Schwerkraftunsicherheit und Bewegungsintoleranz sind sich ihrer Situation bewusst und reagieren mit Ausweichverhalten, bzw. verweigern Aktivitäten, die vestibuläre Reize beinhalten.
Sie haben besondere Mühe, auf Fremdreize zu reagieren, z. B. wenn die Lehrerin von hinten kommend, ihren Stuhl an den Tisch schiebt.
Diese Kinder sind vor allem bemüht, den Kopf und Rumpf zu stabilisieren, um den Einstrom von vestibulären Reizen zu reduzieren.So haben sie große Mühe, wenn der Kopf aus der aufrechten Position nach hinten bewegt werden soll.
Vegetative Reaktionen können nach geringer Gleichgewichtsstimulation auftreten.

Vestibulär/propriozeptiver Reizsucher
Das bewegungsfreudige Kind

Dieses Störungsbild betrifft das vestibuläre und propriozeptive System.

Fisher et al postulierten dies „… ist es uns mit Hilfe der derzeitigen klinischen Beurteilungsverfahren nicht möglich festzustellen, ob die Defizite, die wir an Patienten mit sensorisch-integrativen Dysfunktionen beobachten, mit vestibulären oder mit propriozepitven Verarbeitungsdefiziten oder gar mit beiden Arten von Störungen im Zusammenhang stehen. Deshalb sind wir bei der Beurteilung von Patienten nicht in der Lage, eindeutig zwischen der Funktionsweise des vestibulären System und der Propriozeption zu differenzieren.“
Literatur: Sensorische Integrationstherapie, Theorie und Praxis, Fisher A., Murray E. A., Bundy A. C., 1998

Roley et al beschreiben dieses Störungsbild mit „Propriozeptiver Reizsuche“.
„Kinder, die Propriozeption aktiv suchen, beschäftigen sich oft überaktiv mit Verhaltensweisen, die intensive propriozepitve Eindrücke vermitteln.
Die klinische Interpretation dieses Verhaltens geht dahin, dass die Kinder damit versuchen, sich propriozeptive Reize zu verschaffen, um ihr Erregungsniveau und ihre Empfindlichkeit für Reize aus andern Sinnesmodalitäten, primär aus dem taktilen und vestibulären System, zu modulieren.
Literatur: Sensorische Integration, Praxiswissen, Smith Roley S., Blanche E.I., Schaaf R.C., 2004, S. 122 zitiert Kranowitz 1998, Koomar et al. 1998

Folgende Verhaltensweisen sind im Alltag sichtbar:

  • Die Kinder sind ständig in Bewegung – wirken hyperaktiv
  • Sie sind sich ihres eigenen Körpers- bzw. Körperzustandes nicht bewusst. Wirken waghalsig.
  • Sie suchen zum Teil extreme propriozeptive aber auch vestibuläre Stimulationen.
  • Sie sind bei Bewegung im Raum, die vestibuläre Reize einschließt, schnell überstimuliert. Ihre motorischen Anpassungsleistungen sind dann inadäquat. Sie stolpern, stürzen, wirken insgesamt tollpatschig und ungeschickt.
  • Sie bewegen sich viel. Werden ihre Bewegungen analysiert, so zeigen sich häufig einfache Bewegungsmuster, die schnell repetiert werden.
  • Sie haben häufig Mühe sich gegen die Schwerkraft auszurichten. Sie fallen von einer Position in die andere anstatt den Positionswechsel kontrolliert auszuführen.
  • Sie zeigen mangelhafte Stell- und Gleichgewichtsreaktionen. Einige der Kinder zeigen in „ruhigeren“ Ausgangspositionen, wie z. B. Arbeiten am Tisch, bessere motorische Anpassungsleistungen.

Vestibulär propriozeptive Diskriminationsstörung
Das bewegungsarme Kind

Dieses Störungsbild betrifft das vestibuläre und propriozeptive System.

Fisher et al postulierten dies „… ist es uns mit Hilfe der derzeitigen klinischen Beurteilungsverfahren nicht möglich festzustellen, ob die Defizite, die wir an Patienten mit sensorisch-integrativen Dysfunktionen beobachten, mit vestibulären oder mit propriozepitven Verarbeitungsdefiziten oder gar mit beiden Arten von Störungen im Zusammenhang stehen. Deshalb sind wir bei der Beurteilung von Patienten nicht in der Lage, eindeutig zwischen der Funktionsweise des vestibulären System und der Propriozeption zu differenzieren.“
Literatur: Sensorische Integrationstherapie, Theorie und Praxis, Fisher A., Murray E.A., Bundy A.C., 1998

Folgende Verhaltensweisen sind im Alltag sichtbar:

  • Die Kinder bewegen sich meist nicht gerne
  • Sie suchen bei statischen Positionen viel Unterstützungsfläche (Kopf abstützen, rasch hinlegen, …)
  • Sie wirken schwerfällig, ungelenk und Bewegung macht ihnen offensichtlich Mühe
  • Die Kinder fallen von einer Position in die andere anstatt den Positionswechsel kontrolliert auszuführen
  • Die Kinder zeigen mangelhafte Stell- und Gleichgewichtsreaktionen
  • Auffällig sind manchmal schnelle vegetative Reaktionen, die nicht unbedingt zu dem motorischen Aufwand passen

Quellenliteratur

  • Fisher A.G. / Murray E.A. / Bundy A.C.1998:Sensorische Integrationstherapie – Theorie und Praxis. Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
  • Smith Roley S. / Blanche E.I. / Schaaf R. C. 2004: Sensorische Integration – Grundlagen und Therapie bei Entwicklungsstörungen – Praxiswissen. Springer- Verlag Berlin Heidelberg New York
  • Bundy / Lane / Murray 2007: Sensorische Integrationstherapie – Theorie und Praxis, 3. Auflage. Springer Medizin Verlag Heidelberg

Praxis & Dyspraxie

Praxie

Der Begriff „Praxie“ kommt aus dem griechischen Begriff „prattein“, welcher mit Tätigkeit, Ausübung, Anwendung erklärt wird (Brockhaus 2004).
Unter Praxie verstehen wir das zielgerichtete, zweckmäßige Handeln, basierend auf Bewegungsplanung mit zeitlicher und räumlicher Koordinierung von Bewegungsabläufen (Remschmidt 1981, Maier S. 2006. Oswald A. 2014).
Es ist die Fähigkeit, mit der wir herausfinden, wie wir unsere Hände und den Körper bei Fertigkeiten und ungewohnten Aufgaben einsetzen können.
Zentral ist dabei die Fähigkeit unbekannte neue Bewegungsfolgen auszuführen
(Döring et. al 1993, Kesper et. al. 1992).

Praxie beinhaltet den Werkzeuggebrauch, das ist der Umgang mit Stift, Pinsel, Besteck, Schere, Spielzeug, etc..

Bewegungskontrolle

  • Ideation: Zielbestimmung, Absicht, Antizipieren von Handlungen, Selektion, Treffen von Entscheidungen
  • Planung (motorische Planung)
  • Ausführung

Motorische Planung erfolgt im motorischen Kortex M1, Area 4 und in den sekundär motorischen Arealen, die Area 6 (PMA) prämotorisches Areal und das supplementär motorische Areal (SMA).

Das supplementär motorische Areal (SMA) ist für das Erlernen von Bewegungsfolgen und für komplexe Bewegungsmusterzuständig.

Das prämotorische Areal teilt sich in 2 Anteile:

  • Dorsale Teil: zuständig für die Position des Objekts im Raum
  • Ventrale Teil: für das sensomotorische Feedback (z.B. Hand- und Fingerbewegungen

Gemeinsam sind SMA und PMA an der Verarbeitung von visuellen Informationen in motorische Programme involviert. Mithilfe von sensorischen Informationen aus dem posterioren Parietallappen entsteht ein inneres Körperbild. Diese Informationen werden in den anterioren Anteil des Frontalhirns weitergeleitet (abstraktes Denken, Antizipieren von Handlungen, Treffen von Entscheidungen).
Die Informationen werden an die Area 6, prämotorische Areal und das supplementär motorische Areal geleitet. Diese Areale übernehmen in weiterer Folge die Planung von Bewegungen. Bereits abgespeicherte Bewegungen aktivieren andere Anteile, als Bewegungen die neu erlernt werden. Bei komplexen motorischen Aufgaben arbeiten beide Areale parallel.
Literatur: Engel A.K., Neurowissenschaften, 2007

Dyspraxie

Der Begriff Dyspraxie bezeichnet die beeinträchtigte Fähigkeit, ungewöhnliche und Geschick erfordernde motorische Handlungen in der richtigen Reihenfolge auszuführen. Dyspraxie wird für Kinder mit motorischer Ungeschicklichkeit verwendet, trotz fehlender Schädigung des ZNS.
Ärzte verwenden bevorzugt den Begriff Entwicklungsdyspraxie (ICD-10, F82 oder UEMF, umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen). Darunter wird ein generelles Planungsproblem verstanden, ohne direkt erkennbare spezifische Gehirnläsion.
Fehler treten bei der Aufnahme und Verarbeitung von sensorischen Informationen und auch in der Umsetzung von motorischen Programmen auf. Entwicklungsdyspraxien können trotz unterschiedlicher Entstehungsmechanismen auf Störungen des konzeptuellen und des in Bewegung umsetzenden Systems zurückgeführt werden (Poole et. al. 1997).

Quellenliteratur: Oswald A., 2013 ergo science